Echtes Mitgefühl braucht Raum
Wenn wir anderen begegnen, die trauern, empfinden wir spontan den Wunsch, sie zu trösten. Doch oft ist dieser Wunsch nicht so uneigennützig, wie wir glauben. Vielleicht wollen wir nicht primär den Schmerz des Anderen lindern, sondern unser eigenes Unbehagen beenden – die Beklemmung, die entsteht, wenn Leid in unsere geordnete Welt einbricht. In der Trauer des Anderen sehen wir immer auch unsere eigene: Ist jemand krank, spüren wir die mögliche Bedrohung der eigenen Gesundheit; stirbt jemand, werden wir an unseren eigenen Tod erinnert. Trauer konfrontiert uns mit unserer Verletzlichkeit.
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Unsere Unsicherheit verhindert echte Anteilnahme
Hinzu kommt, dass wir oft gar nicht gelernt haben, wie wir mit Trauer umgehen sollen. Uns fehlt die Gewissheit über „das Richtige“: Wir sorgen uns, etwas falsch zu machen, und weichen aus – entweder flüchten wir in die Vorstellung, den Trauernden nicht „stören“ zu wollen („die wollen sicher ihre Ruhe“) oder wir versuchen, durch Aktivität unser eigenes Gefühl der Befangenheit zu lindern. Doch tatsächlich wünschen sich Trauernde häufig gerade Anteilnahme: das einfache Dasein, sich zeigen, die Trauer anerkennen und mittragen, bereit sein, mitzufühlen.

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Trost spenden heißt Trauer und Leid aushalten
Der Versuch, zu trösten, kann so zur subtilen Form von Selbstschutz werden. Ein einfaches Beispiel verdeutlicht dies: Jemand weint, und wir reichen ein Taschentuch – mit dem stillen Wunsch, das Weinen möge aufhören. Für wen wollen wir das? Für die Person, die weint? Diese erlebt das Weinen möglicherweise als befreiend, als notwendigen Ausdruck ihrer Trauer. Es sind wir, die befangen sind, die mit den Tränen des Anderen überfordert sind. Anstatt Raum zu geben, schließen wir ihn – wir „machen etwas“, damit der Schmerz endet, auch wenn er eigentlich fortbestehen müsste. Damit verlieren wir einen Teil dessen, was echter Trost sein könnte: das bloße Dasein ohne Erwartung, das stille Aushalten mit dem Anderen.
Spannungsfeld Trauer und Schuld
Ein weiterer Aspekt, der unser Mitgefühl verfärbt, ist die Schuld, die sich einstellt, wenn wir dem Leid eines anderen begegnen. Wir sitzen gesund und unversehrt am Bett eines Krebskranken, der gerade eine Chemotherapie erhält, und spüren, wie sich etwas in uns zusammenzieht – nicht, weil wir etwas getan hätten, sondern weil es uns gut geht, während der andere leidet. Dieses Gefühl geht tiefer als bloßes Unbehagen; es ist ein inneres Erschrecken über die Ungleichheit des Schicksals, ein tastbarer Riss in unserer moralischen Selbstgewissheit. Solche Momente berühren die Erfahrung einer Überlebensschuld – das Empfinden, unverdient verschont geblieben zu sein. Diese Schuld ist paradox: Sie entspringt Mitgefühl, doch kann sie es zugleich verstellen. Denn in dem Moment, in dem wir uns schuldig fühlen, wenden wir den Blick unmerklich von der Trauer des anderen auf uns selbst. Schuld wird zu einem feinen Schleier zwischen uns und dem, was echter Trost bedeuten könnte: das ungeteilte Dasein im Angesicht des Schmerzes.
München, 2025
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Foto von Kristina Tripkovic auf Unsplash
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